Juristisch-medizinisches Projekt „Disease Interception”: Universitätsmedizin Essen und Ruhr-Universität Bochum kooperieren
Mit finanzieller Unterstützung des Landes NRW erforscht die Universitätsmedizin Essen mit dem Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht der Ruhr-Universität Bochum die Probleme im Kontext des neuen medizinischen Ansatzes „Disease Interception“, die den Bereich des Krankenversicherungsrechts, aber auch die Digitalisierung und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz sowie Big Data in der Medizin betreffen.
Zu diesem Zweck erhält das an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angesiedelte Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht (ISGR) nicht nur eine Projektförderung in Höhe von mehr als 170.000 Euro vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS), sondern auch tatkräftige Unterstützung aus der medizinischen Praxis.
Disease Interception verfolgt das Ziel, Krankheiten bereits in ihrer Entstehungsphase entgegenzuwirken, indem Prozesse, die mit einer Krankheitsentwicklung in Verbindung stehen, zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt entdeckt und durch eine gezielte Intervention aufgehalten oder sogar umgekehrt werden. Als besonders wertvoll erweist sich das „Abfangen“ (so die wörtliche Übersetzung zu „Interception“) von Erkrankungen bei denjenigen, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln und / oder in einem fortgeschrittenen Stadium nur noch schlecht oder gar nicht mehr behandelbar sind, wie bestimmte Krebsformen oder die Alzheimer-Krankheit.
Im Zusammenhang mit der Identifikation von Anhaltspunkten, die auf einen drohenden symptomatischen Krankheitsausbruch hindeuten, kommt der Digitalisierung, der Sammlung sowie Auswertung großer Datenmengen („Big Data“) und auch dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz eine wachsende Bedeutung zu, insbesondere, um Zusammenhänge zwischen bestimmten Faktoren oder Veränderungen und Krankheiten zu erkennen. Liegen im Einzelfall Hinweise auf krankhafte oder zur Krankheit führende Prozesse vor, kann eine gezielte medizinische Maßnahme einen möglicherweise bevorstehenden Krankheitsausbruch „im Keim ersticken“.
Aufgrund der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Personen gesetzlich krankenversichert ist und damit die Verfügbarkeit von bestimmten medizinischen Maßnahmen faktisch davon abhängt, ob diese im Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) enthalten sind, liegt ein Schwerpunkt des Projekts auf dem Leistungsrecht. Geklärt werden soll, wie sich die Disease Interception in das System des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) – dem Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung – insgesamt einfügt, ob und auf welcher Grundlage gegenwärtig entsprechende Leistungen beansprucht werden können und inwiefern gerade mit Blick auf eine langfristig mögliche umfassende Implementierung dieses Ansatzes ein expliziter Regelungsbedarf besteht.
Neben dem krankenversicherungsrechtlichen Bereich soll auch die medizinische Versorgungspraxis bzw. Forschung in den Blick genommen werden, die sich bereits gegenwärtig mit dem Konzept der Disease Interception befasst und dabei mit verschiedenartigen Herausforderungen und Fragestellungen konfrontiert sieht. Im Rahmen des von Prof. Dr. Stefan Huster geleiteten und wiss. Mit. Lara Wiese bearbeiteten juristisch-medizinischen Kooperationsprojekts erfolgt zu diesem Zwecke eine enge Zusammenarbeit mit der Universitätsmedizin Essen (UME), die über das Konzept des „Smart Hospital“ die im Krankenhaus erhobenen Daten bereits im Sinne der möglichst frühzeitigen Erkennung von Krankheitsrisiken und -anzeichen zur Verbesserung der Versorgung zu nutzen versucht.
Die enge Verknüpfung der Disease Interception mit der Digitalisierung, Datenerhebung bzw. -auswertung und der Entwicklung sowie dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin eröffnet ein weites rechtliches Problemfeld, welches vom Themenkomplex Datenschutz über komplizierte Zertifizierungsverfahren für Geräte, Verfahren oder Apps bis hin zu Fragen der Aufklärung und informierten Einwilligung reicht. In diesem Zusammenhang wird ein intensiver Austausch zwischen dem ISGR und der UME angestrebt, um eine enge Verknüpfung zwischen rechtlichen und versorgungspraktischen Fragestellungen zu gewährleisten. Dank der Unterstützung von Dr. Anke Diehl, Chief Transformation Officer der Universitätsmedizin Essen, und durch die Einbindung sowohl von ärztlichem Personal als auch von Patientinnen und Patienten können die mit dem Konzept der Disease Interception verbundenen Chancen, aber auch Schwierigkeiten aus der Perspektive des Rechts und der medizinischen Praxis beleuchtet werden.
Das Forschungsprojekt ist auf eine Dauer von 24 Monaten angelegt und hat am 1. Juli 2021 begonnen. Seine primären Ziele sind insbesondere die Identifizierung und Darstellung von rechtlichen sowie tatsächlichen Problemen im Zusammenhang mit dem neuartigen Konzept der Disease Interception und die Anreicherung des noch jungen juristischen Diskussionsfeldes zu den Themenkomplexen Krankheitsverhinderung und -früherkennung durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Im Fokus stehen zudem der Datenschutz und auch die Datenspende, also die freiwillige Zurverfügungstellung gesundheitsbezogener Daten für die Forschung.
Die infolge der Kooperation bestehende Vernetzung von Medizinrecht und Medizin dient dabei als Grundlage für eine realitätsnahe, die Bedürfnisse und tatsächlichen Begebenheiten der Praxis berücksichtigende Untersuchung und Bewertung, in deren Rahmen bereits die Erarbeitung konkreter, praktikabler Lösungs- oder Verbesserungsvorschläge angestrebt wird. Die Ergebnisse sollen politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern, Krankenhäusern sowie sonstigen Stakeholdern im deutschen Gesundheitssystem eine erste Orientierung hinsichtlich der Frage bieten, welche Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Konzept der Disease Interception zu bewältigen sind – sowohl gegenwärtig bei seiner Entwicklung und ersten Anwendung als auch perspektivisch, wenn seine umfassende und breitflächige Zugänglichmachung (insbesondere als Leistung der GKV) angezeigt erscheint.
Mit Abschluss des Projekts ist eine ebenfalls vom MAGS geförderte und vom ISGR ausgerichtete Veranstaltung zur „Disease Interception“ geplant, die als ein wissenschaftliches Forum rund um das Thema dienen und eine Vernetzung von Personen bzw. Institutionen mit diesbezüglichen Berührungspunkten ermöglichen soll.
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Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht, Ruhr-Universität Bochum
lara.wiese@ruhr-uni-bochum.de