Pilotprojekt „EINS und EINS macht DREI“ erfolgreich: Unterstützung für suchtkranke obdachlose Menschen


Zwischenbilanz von Suchthilfe direkt Essen gGmbH und LVR-Universitätsklinik Essen: Gemeinsames Team erreicht Menschen mit psychischen Störungen und Suchterkrankungen im Essener Stadtgebiet.
Die Beschwerden von Passant*innen, Gewerbetreibenden und von sozialen Einrichtungen hatten
sich in den vergangenen Jahren gehäuft: Suchtkranke, nicht sesshafte Menschen verhielten sich oft sehr
auffällig und wirkten damit manchmal bedrohlich auf Besucher*innen der Essener Innenstadt. Um diese
Menschen zu erreichen und ihnen Hilfen zu ermöglichen, starteten die Suchthilfe direkt Essen gGmbH
und die LVR-Universitätsklinik Essen am 1. Januar 2024 das Pilotprojekt „EINS und EINS macht DREI“. Es
verfolgt den neuen Ansatz, Sozialarbeit und psychiatrische Suchthilfe zu kombinieren. Nach 15 Monaten
ziehen alle Beteiligten eine positive Zwischenbilanz.
Ein Sozialarbeiter der Suchthilfe direkt Essen und ein in der Psychiatrie erfahrener Pfleger der LVR-
Universitätsklinik Essen suchen die Menschen auf der Straße gemeinsam auf. „Die Menschen, an die sich
dieses Projekt richtet, haben nicht nur soziale, sondern auch komplexe psychische Problemlagen. Wenn
wir nur eines davon adressieren, werden wir der Gesamtproblematik nicht gerecht“, erklärt Prof. Dr.
Norbert Scherbaum, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Klinik für
Abhängiges Verhalten und Sucht der LVR-Universitätsklinik Essen. „Es geht hier um substanzbezogene Störungen, oft verbunden mit schizophrenen Erkrankungen. Da geht es zwar um eine überschaubare Zahl von Menschen, aber die müssen sehr intensiv betreut werden. Die Betroffenen besuchen keine
Klinik oder Ambulanz, sie sind viel zu weit vom Hilfesystem entfernt. Wir müssen auf sie zugehen, um
überhaupt kleine Erfolge zu erzielen.“
Doch die sind schon zu sehen. „Ursprünglich hatten wir etwa zehn Personen als Zielgruppe identifiziert.
In der Zwischenbilanz sehen wir nun, dass es mit drei Frauen und 15 Männern beinahe doppelt so viele
sind“, erklärt Peter Renzel, Stadtdirektor und Dezernent für Soziales und Gesundheit der Stadt Essen.
„Wir haben erkannt, dass diese Zielgruppe der besonders auffälligen, obdachlosen, psychisch kranken
Menschen mit herkömmlichem Streetwork nur rudimentär zu erreichen ist. Das Konzept der Suchthilfe
direkt Essen und der LVR-Universitätsklinik Essen hat uns überzeugt, und wir sind jetzt schon dankbar für
die bisherigen Erfahrungen. Auch andere Städte schauen auf unser Projekt. Wir wissen, dass wir einen
langen Atem brauchen, denn das Thema ist Geduld, ständige Ansprache über Wochen und Monate. Die
Erfolge sind klein, aber nachhaltig – für die Menschen und für unsere Stadt.“
Die suchtkranken obdachlosen Menschen, die das Projekt in den Fokus nimmt, sind jahrelang durchs
Raster der Hilfsangebote gefallen, sagt Bärbel Marrziniak, Geschäftsführerin der Suchthilfe direkt Essen
gGmbH. „Wer am meisten Unterstützung benötigt, darf nicht am wenigsten Hilfe bekommen! Dass es
Erfolge in Form einer Veränderung und Verbesserung gibt, das sehen wir jetzt schon in unserem Projekt.“
Caspar Stolz ist Streetworker bei der Suchthilfe direkt Essen und arbeitet im Projekt „EINS und EINS
macht DREI“ gemeinsam mit Volker Rust von der LVR-Universitätsklinik Essen mit den Betroffenen auf
der Straße. „Die Arbeit ist sehr zeitintensiv. Die Menschen, die wir aufsuchen, sind oft Einzelgänger, die
nicht in die Szene integriert sind“, erzählt Stolz. Und sie sind sehr misstrauisch aufgrund schlechter
Erfahrungen, ihrer psychischen Erkrankung und der Kombination mit Suchterkrankungen. Der erste
Kontakt ist meist, dass sie uns abweisen. Dann geht man weiter, kommt wieder – und wieder und wieder.
Irgendwann haben wir dann ein kleines Fenster, in dem wir etwas erreichen können.“
„Wenn sich dieses Fenster öffnet, muss sofort etwas passieren“, ergänzt Prof. Scherbaum. „Da kann man
nicht sagen: ‚Wir schreiben Sie auf die Warteliste, rufen Sie dann bitte in einer Woche noch mal an.‘ Wenn
der Mensch in die Ambulanz kommt, müssen wir ihn am besten noch am selben Tag aufnehmen. Deshalb
ist die organisatorische Verzahnung mit der Suchthilfe direkt in diesem Projekt so wichtig.“ Die Vorarbeit
zur Aufnahme geschieht bereits auf der Straße. Volker Rust bringt die Erfahrung aus der psychiatrischen
Pflege und medizinisches Wissen mit. „Das ist eine ganz andere Arbeit als wenn zwei Sozialarbeiter
zusammen auf die Straße gehen“, erklärt Caspar Stolz. „Deshalb haben wir bei ‚EINS und EINS macht
DREI‘ auch Erfolge – bis hin zur Vermittlung in die Klinik des LVR zur Entgiftung.“
Nach 30 Monaten läuft das vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-
Westfalen (MAGS NRW) geförderte Pilotprojekt aus. Anschließend wird in Essen ein Handlungsleitfaden
für andere Kommunen in NRW entwickelt. „Wir als Träger hoffen, dass die Arbeit auch nach dem
Auslaufen des Projekts und der Förderung fortgesetzt werden kann“, betont Bärbel Marrziniak. Diese
Position vertritt nach den sichtbaren Erfolgen auch die Stadt. „Das Thema muss sich verstetigen, deshalb
werden wir mit dem LVR, dem Ministerium und den Krankenkassen in Gespräche gehen, um das Modell
in eine Regelstruktur zu bringen“, sagt Peter Renzel. „Wenn wir es nach 30 Monaten fallenlassen, helfen
wir uns nicht weiter.“
Zahlen zur Zwischenbilanz (Erhebungszeitraum 1. Januar 2024 bis 20. Juni 2025)
• 3 Frauen und 15 Männer waren in kontinuierlicher unterstützender Begleitung/Betreuung 1
• 107 Einsätze im Team auf der Straße 2
• 29 Begleitungen zu medizinischen Hilfen (z.B. zum Arztmobil) 3
• 15 Begleitungen zu sozialen Hilfen (z.B. zur Lindenallee oder zur Diakonie)
• 16 Vermittlungen in medizinische Hilfen (z.B. in Entgiftung)
• 18 Vermittlungen in soziale Hilfen (z.B. in Angebote der SDE; in Wohneinrichtungen, etc.)
• 27 Kriseninterventionen 4
• 248 Gespräche (Beziehungsaufbau und Intervention) 5
• 79 Kooperationsgespräche 6
• 1 Wohnraumvermittlung 7
• 4 geschlossene Unterbringungen
• Im ersten Halbjahr fokussierte sich die Arbeit zudem auf: Vorstellung und Bewerben des Projekts
im Netzwerk (in AKs, AGs, Einrichtungen), Gremienarbeit; Entwicklung von Flyern, etc.
Im Projekt EINS und EINS macht DREI ist es gelungen, die definierte Gruppe von Personen, die sich auffällig
verhalten, verschiedene psychische Störungen aufweisen, z.T. nicht sesshaft sind und zusätzlich Suchtmittel
konsumieren, zu erreichen (Kontaktaufnahme und -pflege), Beziehung und Vertrauen aufzubauen
(Arbeitsbeziehung) und Veränderungsprozesse zu initiieren (Interventionen, Inanspruchnahme des Essener
Hilfesystems).
Anmerkungen
- eine intensive, hochkomplexe Arbeit mit hoher Falltiefe mit schwer erreichbaren Personen,
die i.d.R. nicht in der Gruppe, sondern als Einzelgänger*innen auftreten - häufig sehr zeit- und ressourcenintensive Einsätze; Fokus auf qualitative Intensivbetreuung
(nicht wie oft, sondern was sich verändert hat); Einsätze auf der Straße immer im Team (nur zu
zweit aus Sicherheitsaspekten) - Begleitungen und Vermittlungen: Das Projekt EINS und EINS macht DREI ist kein
Schnelllösungsprogramm, sondern ein stabiles und stabilisierendes Angebot für Menschen, die
über Jahre durch alle Raster gefallen sind. Wir bauen Vertrauen und eine Beziehung auf, wo
andere längst aufgegeben haben. Jeder vermittelte Kontakt, jede Begleitung, jede
systematische Verknüpfung mit dem Hilfenetzwerk und jede gehaltene Beziehung ist ein Erfolg. - Kriseninterventionen häufig in Zusammenhang mit einer Vermittlung und Begleitung im
klinischen Kontext, z.B. bei geäußerten Suizidgedanken - Vom Smalltalk bis zu akuten, bedarfsgesteuerten Gesprächen mit den Betroffenen; zudem
Gespräche mit Bürger*innen und Gewerbetreibenden in Bezug auf Beschwerden (sog.
Beschwerdemanagement) - Gespräche (Austausch) mit Ordnungsbehörden wie Polizei, Ordnungsamt und
Sicherheitsdiensten - In einem extrem schwierigen Wohnungsmarkt ist jede hochindividuelle Wohnraumvermittlung
für die Person ein großer Fortschritt.
Die reinen Zahlen geben nur bedingt Aufschluss über die tatsächliche Intensität und Wirkung der Arbeit.
Viele Prozesse sind komplex, zeitaufwendig und verlaufen in kleinen, aber bedeutenden Schritten.
Dauer und Tiefe der Unterstützung
Viele der begleiteten Personen standen zu Beginn der Unterstützung außerhalb jeglicher Hilfestrukturen.
Die Anbahnung einer stabilen Beziehung erforderte häufig lange Zeit kontinuierlicher Arbeit. Ein Fall
bedeutete im Durchschnitt über drei Monate regelmäßige Begleitung, mehrere Kontakte pro Woche und
eine enge Abstimmung mit Fachstellen. Zwischen Erstkontakt und erfolgreicher Vermittlung lagen bei
vielen Fällen 40 bis 60 Tage intensiver, meist aufsuchender Begleitung.
Einzelfalltiefe und Prozessverständnis
Ein Fall besteht in diesem Projekt nicht aus einem einzigen Kontakt, sondern oft aus Dutzenden
Einzelkontakten – verteilt über Wochen oder Monate. Viele Begleitungen münden nicht sofort in eine
Vermittlung, sondern zunächst in eine Stabilisierung – und das ist bei dieser Zielgruppe bereits ein
großer Erfolg. Das Ziel ist nicht allein die schnelle Vermittlung, sondern die Wiederherstellung von
Vertrauen in Unterstützungssysteme – ein Prozess, der Geduld, Kontinuität und Präsenz erfordert.
Was ein Einzelfall konkret bedeutet
Ein einziger erfolgreich begleiteter Fall bedeutete im Schnitt: zahlreiche persönliche Kontakte, mehrere
gemeinsame Behördentermine, Kriseninterventionen und enge Rücksprachen mit
Kooperationspartnern.
Die Projektarbeit lässt sich nicht allein in Zahlen messen. Sie zeigt sich in stabilisierten Beziehungen,
vermiedenen Krisen, vermittelten Kontakten und der schrittweisen Anbindung an Hilfesysteme. Jeder
Schritt ist ein Erfolg für sich – besonders bei Menschen, die von vielen Strukturen nicht mehr erreicht
wurden.